BLOG -


Presserecht:
Fortbestand eines Unterlassungsanspruchs nach rechtskräftiger
Verurteilung des
Täters?

Bundesgerichtshof, Urteil vom 18. Juni 2019 - VI ZR 80/18

Oft kann ein Artikel während des Ermittlungsverfahrens unzulässig, wenig später nach rechtskräftiger Verurteilung aber erlaubt sein. Das hat nun auch der BGH entschieden:

Staatsanwalt gegen Star-Anwalt“ titelte die Bild am Sonntag passend, als die Staatsanwaltschaft München I das Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Vergewaltigung gegen den ehemaligen Partner einer renommierten Kanzlei eröffnete. Mit der daran anschließenden Berichterstattung überschritt die Zeitung nach Ansicht des Oberlandesgerichts Münchens aber die fließenden Grenzen zwischen zulässiger und verbotener Verdachtsberichterstattung. Logische Folge: Der Star-Anwalt konnte einen Unterlassungsanspruch gegen die Zeitung durchsetzen - zumindest damals!

Der Bundesgerichtshof („BGH“) stellte nun fest, dass sich die damals getätigten Äußerungen durch die mittlerweile rechtskräftige Verurteilung des Anwalts nachträglich bewahrheitet hätten. Erschiene der Artikel heute, wäre er damit zulässig. Damit entfällt nach Auffassung des BGH die für den Unterlassungsanspruch erforderliche Wiederholungsgefahr. Ein Anspruch darauf, die Verbreitung des Artikels zukünftig zu unterlassen, besteht damit nicht (mehr).

Sachverhalt

Im Februar 2015 eröffnete die Staatsanwaltschaft München I ein Ermittlungsverfahren gegen den Anwalt.

Unmittelbar danach berichtete die Bild am Sonntag mehrfach über den Fall. In einem Artikel zeigte sie ein Foto des damals nur als verdächtig geltenden Anwalts, den sie mit einem schwarzen Balken „unkenntlich“ machte. Sodann behauptete die Zeitung, die Staatsanwalt-schaft soll während des Münchner Oktoberfests mehrere Straftaten begangen haben. Den Ermittlungen sei eine 14-seitige Strafanzeige seines ehemaligen Kollegen vorausgegangen.

Der Anwalt erwirkte umgehend mehrere einstweilige Verfügungen, mit denen das Landgericht München I sowie das Oberlandesgericht München die Verbreitung von Fotos und Texten untersagte. Das Landgericht München I verurteilte den Anwalt im Februar 2018 schließlich zu drei Jahren und drei Monaten Haft. Anfang 2019 ist das Urteil rechtskräftig geworden.

Entscheidung

Der BGH hatte nun darüber zu entscheiden, ob die Unterlassungsansprüche des mittlerweile verurteilten Anwalts gegen die Zeitung fortbestehen. Dies verneinte der BGH.

Der behauptete Tatvorwurf gilt mit rechtskräftiger Verurteilung des Anwalts nun als wahr. Aus dem vormals Verdächtigen ist ein Täter geworden. Die strengen Grundsätze der Verdachtsberichterstattung gelten somit nicht mehr. Vielmehr wäre die Berichterstattung der Bild-Zeitung heute zulässig. Mangels Wiederholungsgefahr entfällt damit auch der Anspruch des verurteilten Anwalts auf Unterlassung der angegriffenen Äußerungen.

Im Einzelnen:

Der BGH bestätigte zunächst die von ihm aufgestellten Grundsätze zur Verdachtsberichterstattung. Ist eine Person nur einer Tat verdächtig, sei es im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft oder noch im Hauptverfahren vor Gericht, darf die Presse grundsätzlich darüber berichten. Dazu müssen aber die folgenden Voraussetzungen vorliegen:

  1. Es muss sich um eine Angelegenheit handeln, die das öffentliche Interesse wesentlich berührt. Das ist in der Regel bei besonderes schweren Tatvorwürfen der Fall.
  2. Vor Veröffentlichung müssen sorgfältige Recherchen über den Wahrheitsgehalt angestellt werden. Je schwerwiegender der Tatvorwurf, desto höhere Anforderungen an die Sorgfaltspflicht. Die Recherche muss zumindest einen Grundverdacht bestätigen.
  3. Die Berichterstattung muss ausgewogen sein und auch entlastende Umstände nennen. In keinem Fall darf es zu einer Vorverurteilung des mutmaßlichen Täters kommen.
  4. Dem Betroffenen muss eine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden.

Nach Auffassung des BGH waren diese Voraussetzungen nicht erfüllt, als die Bild am Sonntag ursprünglich über den Vorfall berichtete.

Mit der rechtskräftigen Verurteilung greifen die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung aber nicht mehr. Es gilt nun als wahr, dass der Anwalt die Tat begangen hat. Ob die Berichterstattung darüber zulässig ist, ist durch Abwägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Anwalts und der Pressefreiheit zu ermitteln.

Wahre Tatsachen müssen vom Betroffenen aber in der Regel hingenommen werden. Bei Straftätern gilt darüber hinaus der Grundsatz:

Wer den Rechtsfrieden bricht, durch diese Tat und ihre Folgen Mitmenschen angreift oder verletzt, muss sich nicht nur den hierfür verhängten strafrechtlichen Sanktionen beugen, sondern er muss auch dulden, dass das von ihm selbst erregte Informationsinteresse der Öffentlichkeit

auf den dafür üblichen Wegen befriedigt wird.“ (BGH, BeckRS 2019, 16175 - Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Wort- und Bildberichterstattung m.w.N.)

Je länger die Straftat aber zurückliegt, desto mehr rückt das Interesse des Täters in den Vordergrund, von einer fortwährenden Diskussion um seine Verbrechen verschont zu bleiben. Denn dies könnte einer erfolgreichen Resozialisierung des Täters entgegenstehen. Ein Recht des Täters darauf, mit der Verbüßung einer Strafe, mit der Tat gänzlich in Ruhe gelassen zu werden, besteht hingegen nicht.

Diese Gefahr sah der BGH im vorliegenden Fall nicht und hielt die Berichterstattung nach dem heutigen Stand der Dinge für zulässig. Diese neue Rechtslage wirkt sich nach Ansicht des BGH auch auf den Unterlassungsanspruch des Täters gegen die Bild am Sonntag aus.

Ein Unterlassungsanspruch nach § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG setzt eine sogenannte Wiederholungsgefahr voraus. In den allermeisten Fällen wird die Wiederholungsgefahr aber vermutet, wenn es in der Vergangenheit bereits zu einer rechtswidrigen Beeinträchtigung von Rechten des Betroffenen gekommen ist. Durch die rechtswidrige (Erst-)Berichterstattung begründete die Bild am Sonntag damit auch die Gefahr, diese rechtswidrige Berichterstattung zu wiederholen.

Allerdings, so stellte der BGH nun fest, entfällt diese Vermutung, wenn sich die tatsächlichen Umstände ändern und die Berichterstattung nunmehr rechtlich zulässig ist. Das ist hier der Fall. Denn wegen § 190 S. 1 StGB gilt die Vergewaltigung nun als wahr. Damit fehlt es an einer zwingenden Voraussetzung des Unterlassungsanspruchs. Der Unterlassungsanspruch besteht damit nicht mehr fort.

Praxishinweis

Die Entscheidung des BGH verdeutlicht, welche unterschiedlichen Anforderungen an die Berichterstattung über (mutmaßliche) Straftäter von der Presse zu beachten sind.

Besondere Vorsicht ist geboten, wenn ein vermeintlicher Täter noch nicht (formell) rechtskräftig verurteilt ist oder die Verurteilung bereits einige Jahre zurückliegt. In beiden Fällen unterliegt die Berichterstattung über die Straftat besonders engen Anforderungen. Eine Entscheidung des Gerichts ist dabei formell rechtskräftig, wenn die Prozessbeteiligten keine Rechtsmittel mehr gegen die richterliche Entscheidung eingelegen können.

Erneut hat der BGH außerdem angenommen, dass der „schwarze Balken“ über den Augen des Betroffenen nicht ausreicht, um die Identifikation einer Person unmöglich zu machen. In manchen Fällen ist eine Verpixelung des Gesichts daher das effektivere Mittel, um eine Identifizierung zu verhindern. Aber auch die Verpixelung kann eine Identifizierung nicht immer verhindern.

Das Urteil des BGH zeigt letztlich, dass es sich lohnen kann, zu prüfen, ob vermeintliche Unterlassungsansprüche auch nach einiger Zeit noch bestehen oder ob sich die tatsächlichen Umstände geändert haben.

Bei Fragen zu diesem Thema wenden Sie sich gerne an Paul Bek.

TAGS

Presserecht Unterlassungsanspruch Verurteilung Bundesgerichtshof, Urteil vom 18. Juni 2019 - VI ZR 80/18