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Revolution bei den Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats?

Erfurt/München, 29. August 2022 – Das Bundesarbeitsgericht (BAG) entscheidet am 13. September 2022 zur Frage, ob der Betriebsrat vom Arbeitgeber die Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems verlangen kann (1 ABR 22/21). "Es könnte die wichtigste arbeitsrechtliche Entscheidung des Jahres werden", sagt Dr. Wolfgang Lipinski, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner von ADVANT Beiten, einer führenden deutschen Wirtschaftskanzlei. "Sie könnte einen gewaltigen Paukenschlag für alle Betriebe bedeuten, in denen ein Betriebsrat besteht", so der Anwalt weiter. Der Beschluss könnte zu größeren Umwälzungen im Betriebsverfassungsrecht führen, da dem Betriebsrat nach der bisherigen Rechtsprechung kein sogenanntes Initiativrecht bei der Einführung von technischen Kontrolleinrichtungen wie zum Beispiel einer "Stechuhr", eines Fahrtenschreibers oder ähnlicher Geräte zugestanden hat. Initiativrecht bedeutet, dass der Betriebsrat auch gegen den Willen eines Arbeitgebers zum Beispiel gegebenenfalls die Einführung einer Stechuhr, aber auch anderer technischer Einrichtungen oder die Einführung einer bestimmten Software durchsetzen kann.

Dem Fall liegt der folgende Sachverhalt zugrunde: Die Arbeitgeberinnen betreiben gemeinsam eine vollstationäre Wohneinrichtung. Sie verhandelten ab 2017 mit dem Betriebsrat über den Abschluss einer sogenannten Betriebsvereinbarung (Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat) zur Arbeitszeiterfassung. Ende Mai 2018 entschlossen sie sich, im Betrieb keine elektronische Zeiterfassung einzuführen. Die Verhandlungen wurden abgebrochen. Mit dem vorliegenden Verfahren möchte der Betriebsrat festgestellt wissen, dass für ihn ein Mitbestimmungsrecht zur initiativen Einführung einer elektronischen Zeiterfassung bestehe. Er meint, auch die Arbeitnehmer könnten ein Interesse an der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung haben, gerade wenn es um die genaue Erfassung von Arbeitszeit und Überstunden gehe. Die Arbeitgeberinnen sind demgegenüber der Auffassung, beim Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Einführung von technischen Kontrolleinrichtungen nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 des Betriebsverfassungsgesetzes handele es sich um ein reines Abwehrrecht zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer. Der Betriebsrat könne danach die Einführung einer solchen Einrichtung nicht initiativ verlangen.

"Sollte das BAG zugunsten des Betriebsrats entscheiden, würde es seine langjährige Rechtsprechung aufgeben. Denn das Gericht hat in einer einschlägigen Entscheidung aus dem Jahr 1989 ein solches Initiativrecht abgelehnt", erläutert Lipinski. "Ein Rechtsprechungswechsel hätte weitreichende Konsequenzen für das Betriebsverfassungsrecht und die betriebliche Praxis. Denn mit Bejahung eines solchen Initiativrechts könnte der Betriebsrat vom Arbeitgeber zum Beispiel auch den Einsatz anderer beim Arbeitgeber bisher nicht eingesetzter IT-Systeme oder Software wie
Windows 365, MS-Teams, Zoom etc. fordern. Sollte dann keine Einigung mit dem Arbeitgeber erzielt werden, müsste eine Einigungsstelle ('Schlichtungsstelle' mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern unter der Leitung eines neutralen Vorsitzenden) einberufen werden, die auch gegen den Willen des Arbeitgebers entscheiden kann", so Lipinski. "Die extrem hohe Praxisrelevanz ergibt sich auch daraus, dass nach der bisherigen BAG-Rechtsprechung die technischen Einrichtungen lediglich zur Verhaltenskontrolle geeignet sein müssen, auch wenn der Arbeitgeber dies nachweisbar gar nicht bezweckt. Schon dann ist nach dem BAG die Mitbestimmung des Betriebsrats zu bejahen, der Anwendungsbereich der Vorschrift, um die es hier geht, ist
also riesengroß", so der Anwalt weiter.

Auch "europäische Faktoren" könnten bei der am 13. September 2022 anstehenden Entscheidung eine Rolle spielen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte 2019 entschieden (C-55/18 – CCOO), dass nach EU-Recht der deutsche Gesetzgeber eine Regelung erlassen muss, die Arbeitgeber verpflichtet, ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Der deutsche Gesetzgeber hat sich bisher trotz einer Absichtserklärung im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien im letzten Jahr nicht auf eine Regelung verständigen können. "Es wird teilweise vermutet, dass das BAG seine Entscheidung im Licht dieser EuGH-Rechtsprechung treffen könnte. Von der Sache her geht es aber um
etwas anderes (nicht um die Verpflichtung des deutschen Gesetzgebers, eine Regelung zur Arbeitszeiterfassung zu treffen, sondern um die Frage, ob der Betriebsrat eine elektronische Zeiterfassung im Betrieb durchsetzen kann). Sollte das BAG aber dem Betriebsrat recht geben, würde es ihn de facto zu einer Art 'Betriebspolizei' machen, die statt des bisher untätigen Gesetzgebers den Arbeitgeber zur Einführung einer umfassenden elektronischen Zeiterfassung zwingen kann", erläutert Lipinski. "Dies ist abzulehnen, da nach dem bisherigen deutschen Arbeitszeitgesetz durch den Gesetzgeber eindeutig und ganz klar vorgegeben ist, dass vom Arbeitgeber nur die über acht Stunden am Tag hinausgehende Arbeitszeit zu erfassen ist. Sollte man dies anders wollen, ist der Gesetzgeber gefordert und nicht das BAG als Gericht, das lediglich bestehende Gesetze anzuwenden hat oder unklare Regelungen auszulegen hat. Zudem fordert der EuGH eben keine technische bzw. elektronische Zeiterfassung. Eine technische Einrichtung ist aber Voraussetzung für den Mitbestimmungstatbestand, um den es hier geht", so Lipinski. "Es ist sehr zu hoffen, dass das BAG daher seine bisherige Rechtsprechung, die argumentativ überzeugend ein Initiativrecht ablehnt, beibehält und dass - wie bei der Gewaltenteilung vorgesehen - der Gesetzgeber eine Regelung trifft".

Lipinski geht sogar noch einen Schritt weiter: "Am besten wäre es, wenn der deutsche Gesetzgeber eine umfassende Reform des Arbeitszeitrechts vornehmen würde. Denn vor dem Hintergrund von mobile office, Homeoffice, flexiblen Arbeitszeiten etc. entspricht das existierende Arbeitszeitrecht häufig nicht mehr der praktischen Lebenswirklichkeit der Arbeitsvertragsparteien. Am dringendsten sollte der Gesetzgeber die Flexibilität im Arbeitsverhältnis dadurch stärken, dass er die tägliche 8-Stunden-Arbeitszeitgrenze abschafft und stattdessen eine Wochenhöchstarbeitszeit einführt", so der Anwalt abschließend.

Dr. Wolfgang Lipinski ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei ADVANT Beiten. Gerne steht er Ihnen für Interviews zur Verfügung.

Zur besseren Lesbarkeit wird im vorliegenden Dokument auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Es wird das generische Maskulin verwendet, wobei alle Geschlechter gleichermaßen gemeint sind.

 

Pressekontakt

Dr. Wolfgang Lipinski
Fachanwalt für Arbeitsrecht
ADVANT Beiten
+49 (89) 350 65 - 1133
wolfgang.lipinski@advant-beiten.com 

Markus Bauer
Leitung Marketing (Praxisgruppe Arbeitsrecht)
ADVANT Beiten
+49 (89) 350 65 - 1104
markus.bauer@advant-beiten.com


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