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„Kennenlern-Praktika“ – Vorsicht vor unfallversicherungsrechtlichen Stolperfallen
Bundessozialgericht vom 31. März 2022 - B 2 U 13/20 R
Im Rahmen eines „Kennenlern-Praktikums“ kann bei der Besichtigung des Unternehmens Unfallversicherungsschutz kraft Satzung der Berufsgenossenschaft bestehen.
Sachverhalt
Eine Arbeitsplatzbewerberin absolvierte bei einem Unternehmen ein unentgeltliches, eintägiges „Kennenlern-Praktikum“. Hierfür schlossen die Bewerberin und das Unternehmen eine „Kennenlern-/Praktikums-Vereinbarung“. Während des eintägigen „Kennenlern-Praktikums“ führte die Bewerberin Gespräche und stand im fachlichen Austausch mit der IT-Abteilung, absolvierte aber auch eine Betriebsführung und besichtigte zum Abschluss ein Hochregallager des Unternehmens. Bei der Besichtigung des Hochregallagers stürzte die Bewerberin und brach sich den rechten Oberarm.
Die Entscheidung: Das Bundessozialgericht (BSG) hat anders als die beklagte Berufsgenossenschaft und die Vorinstanzen einen Arbeitsunfall festgestellt. Dies jedoch nur deshalb, da die Satzung der Berufsgenossenschaft Teilnehmer einer Unternehmensbesichtigung unfallversichere. Das eigene, grundsätzlich nicht versicherte Interesse der Bewerberin am Kennenlernen des potenziellen zukünftigen Arbeitgebers stehe dem Unfallversicherungsschutz kraft Satzung in diesem Fall nicht entgegen, da die Satzung den Unfallversicherungsschutz nicht auf Personen beschränke, deren Aufenthalt im Unternehmen ausschließlich der Besichtigung diene.
Konsequenzen für die Praxis
Die begrüßenswerte Entscheidung des BSG eröffnet Spielraum für die Gestaltung von „Kennenlern-Praktika“. Es ist jedoch für jeden Betrieb zu prüfen, ob die jeweils zuständige Berufsgenossenschaft eine vergleichbare Satzungsregelung beschlossen hat. Dies ist nicht immer der Fall. Ohne eine solchen Satzungsregelung besteht Unfallversicherungsschutz für „Kennenlern-Praktikanten“ kraft Gesetzes selten. Eine vom Versicherungsschutz umfasste Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch liegt nur dann vor, wenn der Verletzte sich in ein fremdes Unternehmen eingliedert und seine Handlungen dem Weisungsrecht eines Unternehmens insbesondere in Bezug auf Zeit, Dauer, Ort und Art der Verrichtung unterordnet (vgl. BSG vom 12. Dezember 2013 – B 4 AS 87/12 R). Maßgebliches Kriterium ist ein Tätigwerden im fremden Interesse. Bei „Kennenlern-Praktika“ steht jedoch in der Regel das eigene Interesse der Bewerber am Kennenlernen des potenziellen Arbeitgebers im Vordergrund. Personen, die im Wesentlichen im eigenen Interesse tätig werden, sind jedoch nicht vom Unfallversicherungsschutz kraft Gesetzes umfasst.
Praxistipp
Vor „Kennenlern-Praktika“ sollten zwingend Vereinbarungen mit den Bewerbern geschlossen werden. Nicht nur in Hinblick auf den Versicherungsschutz bestehen Stolperfallen, auch zur Vermeidung einer Vergütungspflicht ist Achtsamkeit gefordert. Ein „Kennenlern-Praktikum“ oder „Probearbeiten“ kann ohne vertragliche Vereinbarung ein „faktisches“ und damit unbefristetes Arbeitsverhältnis entstehen lassen, im Rahmen dessen dem Bewerber u.a. ein Vergütungsanspruch für geleistete Arbeit zustehen kann. Ein sogenanntes echtes „Einfühlungsverhältnis“, dass nach richtiger Ansicht nicht als Arbeitsverhältnis einzuordnen ist, besteht zudem nur dann, wenn keine Pflicht des Bewerbers zur Arbeitsleistung besteht und das Einfühlungsverhältnis tatsächlich nur die Gelegenheit einräumen soll, den Betrieb und einen potenziellen Arbeitsplatz kennenzulernen. In diesem Fall darf kein Weisungsrecht des Arbeitgebers vereinbart und ausgeübt werden, d.h. an den Bewerber dürfen keine Anordnungen adressiert werden. Ein „Probearbeiten“ scheidet damit faktisch aus. Richtigerweise kann ein solches „Einfühlungsverhältnis“ auch nur sehr kurze Zeit durchgeführt werden, um keine Lohnansprüche und insbesondere Ansprüche auf dem gesetzlichen Mindestlohn auszulösen. Bewerber sollten zudem vertraglich dazu verpflichtet werden, einen Unfallversicherungsschutz auf eigene Kosten abzuschließen.