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Sozialauswahl: Berücksichtigung von Rentennähe zu Lasten des Arbeitnehmers

BAG vom 8. Dezember 20222 - 6 AZR 31/22 (Pressemitteilung)

Bei der im Rahmen einer betriebsbedingten Kündigung vorzunehmenden Sozialauswahl kann bei der Gewichtung des Faktors „Lebensalter“ der Umstand, dass ein Arbeitnehmer bereits eine Altersrente bezieht oder eine solche innerhalb von zwei Jahren nach der mit der Kündigung in Aussicht genommenen Beendigung des Arbeitsverhältnisses beziehen kann, zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden. Davon ausgenommen sind lediglich Altersrenten für schwerbehinderte Menschen.

Sachverhalt

In dem vom BAG entschiedenen Sachverhalt ging es um eine 1957 geborene klagende Arbeitnehmerin, die bereits langjährig (seit 1972) bei dem Arbeitgeber beschäftigt war. Nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers kam es zwischen dem Insolvenzverwalter und dem Betriebsrat zu einem Interessenausgleich mit Namensliste, aufgrund dessen die betriebsbedingte Kündigung von 61 der insgesamt 396 Beschäftigten beabsichtigt war, darunter auch der Klägerin. Die Namensliste war Ergebnis einer Sozialauswahl, bei welcher der Insolvenzverwalter die Klägerin in ihrer Vergleichsgruppe insbesondere deshalb für sozial am wenigsten schutzwürdig hielt, weil sie als einzige Arbeitnehmerin die Möglichkeit hatte, zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte gem. §§ 38, 236b SGB VI zu beziehen.

Die Klägerin dagegen hielt die Kündigung für unwirksam. Insbesondere die Sozialauswahl sei fehlerhaft, da sie im Vergleich zu einem wesentlich jüngeren, erst 1986 geborenen und zudem erheblich kürzer, nämlich erst seit 2012 beschäftigten Kollegen, deutlich schutzwürdiger sei.

Sowohl erstinstanzlich das ArbG Dortmund als auch im Berufungsverfahren das LAG Hamm folgten der Argumentation der Klägerin und gaben der Klage statt.

Die Entscheidung

Das BAG hingegen sah dies anders: Nach Auffassung der Erfurter Richter sei das Auswahlkriterium „Lebensalter“ ambivalent. So nehme die soziale Schutzbedürftigkeit eines Arbeitnehmers mit steigendem Lebensalter zwar zunächst zu, weil ältere Arbeitnehmer nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt hätten. Die Schutzbedürftigkeit sinke jedoch wieder ab, wenn der Arbeitnehmer entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters verfügen kann oder über ein solches bereits verfügt, weil er schon eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht. Ausgenommen davon sei lediglich die Altersrente für schwerbehinderte Menschen gemäß §§ 37, 236a SGB VI.

Bei der konkreten Gewichtung des Lebensalters käme den Betriebsparteien insoweit ein Wertungsspielraum zu, innerhalb dessen ein hohes Lebensalter unter den genannten Voraussetzungen auch zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigt werden könne.

Konsequenzen für die Praxis

Der Entscheidung ist zuzustimmen. Die gesetzlichen Regelungen in § 1 Abs. 3 KSchG, § 125 Abs. 1 Nr. 2 InsO geben dem Arbeitgeber lediglich vor, die Kriterien der Sozialauswahl und damit auch das Lebensalter „ausreichend zu berücksichtigen“. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass die soziale Schutzwürdigkeit umso höher zu gewichten wäre, je älter ein Arbeitnehmer ist. Im Gegenteil wäre schwer einzusehen, weshalb der Umstand, dass ein Arbeitnehmer in absehbarer Zeit über eine Absicherung in Form der Altersrente verfügen wird oder eine solche Absicherung sogar schon bezieht, nicht zu einem „Weniger“ an sozialer Schutzbedürftigkeit führen sollte. Nicht zuletzt wird dadurch auch der Schutz jüngerer Arbeitnehmer erhöht, die über eine solche soziale Absicherung eben (noch) nicht verfügen. Insofern ist zu begrüßen, dass das BAG diese streitige Rechtsfrage nunmehr entschieden und mit der Zwei-Jahres-Grenze für die „Rentennähe“ auch für die Praxis Rechtsklarheit geschaffen hat.

Zu beachten ist jedoch, dass eine vorzeitige Altersrente wegen Schwerbehinderung im Rahmen der Sozialauswahl nicht berücksichtigt werden darf, da dies nach der Rechtsprechung des EuGH eine unzulässige Benachteiligung wegen einer Schwerbehinderung darstellen würde (EuGH vom 06. Dezember 2012 – C-152/11). Auch die übrigen Kriterien der Sozialauswahl wie Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung dürfen selbstverständlich nicht unberücksichtigt bleiben. Innerhalb dieses Rahmens aber ist die Bewertung eines rentennahen oder bereits eine Altersrente beziehenden Arbeitnehmers als weniger sozial schutzwürdig nunmehr zulässig.

Dr. Michael Matthiessen

Zur besseren Lesbarkeit wird in dem vorliegenden Beitrag auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Es wird das generische Maskulin verwendet, wobei alle Geschlechter gleichermaßen gemeint sind.

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